Lebensgemeinschaften für Menschen
mit und ohne geistige Behinderungen

Martha war in Cuise-la-Motte in Frankreich

Alltag teilen – einander begleiten – einander tragen

Martha* lebte 2013/2014 ein Jahr lang in einer französischen Arche-Gemeinschaft. Sie berichtet davon, wie das Vertrauen einer Bewohnerin sie verwandelte, welche Vor- und Nachteile die räumliche Nähe zu Trosly mit sich bringen kann und wie die Zeit in der Arche ihre Begeisterung für das Gemeinschaftsleben geweckt hat.
*) Aus Gründen des Datenschutzes möchte Martha ihren Nachnamen nicht genannt haben.

Wie so viele Deutsche wollte ich nach dem Abi ins Ausland – eigentlich nach Lateinamerika. Doch meine Entsendeorganisation hatte auch ein Angebot in Frankreich, über das ich zufällig stolperte. Genauer gesagt in Cuise-la-Motte, einem kleinen Dorf nördlich von Paris. Und die Beschreibung dieser „Arche“ klang so spannend, dass ich beschloss, vor Lateinamerika noch ein Jahr in Cuise einzulegen. Wie sich herausstellte, war das die beste Entscheidung meines Lebens. Ich bin angekommen als schüchternes Mädchen und gegangen als selbstbewusste junge Frau. In der Arche habe ich gelernt, Dinge anzupacken und Verantwortung zu übernehmen. Ich habe gelernt, an meine Grenzen zu gehen und wo diese Grenzen überhaupt liegen. Ich habe gelernt, Menschen auf Augenhöhe zu begegnen, die man normalerweise von oben herab behandelt. Nicht weil diese Augenhöhe in der Arche immer zu 100% umgesetzt wird oder weil ich das dort geschafft hätte. Sondern weil die Menschen, denen ich in der Arche begegnet bin, diese Augenhöhe immer wieder selbstbewusst eingefordert haben.

 

Eine besondere Freundschaft

Mit einer Frau in meinem „foyer“ (Haus) habe ich in dieser Zeit eine ganz besondere Freundschaft entwickelt. Ich nenne sie hier Charlotte. Als ich im Oktober in Cuise ankam, machte sie gerade eine sehr schwierige Zeit durch. Sie konnte uns nicht sagen warum, weil sie nicht sprechen konnte, aber sie schrie sehr oft und vor allem sehr laut. Das war für alle Hausbewohner schwer auszuhalten, sowohl für die „assistants“ als auch für die „personnes“ (Menschen mit Behinderungen). Charlotte schrie so viel und war – vermutlich durch den Schmerz, den sie damit ausdrückte – so unnahbar, dass ich einfach nur große Angst vor ihr hatte. Wenn ich sie begleitete, begann es meist damit, dass ich alles versuchte, um sie zu beruhigen. Und es endete meist damit, dass ich verzweifelte. Nach Weihnachten war eine Woche Urlaub, in der die gesamte „communauté“ (Gemeinschaft) in gemischten Gruppen zu verschiedenen Orten fahren sollte. Als ich erfuhr, dass ich Charlotte begleiten sollte, war ich gar nicht glücklich. Aber diese eine Woche veränderte alles. Ich weiß bis heute nicht, was da eigentlich genau passiert ist. Ich musste plötzlich viel selbständiger sein als im „foyer“ und irgendwann hat es einfach klick gemacht in mir. Wahrscheinlich hat mich Charlotte in dieser Zeit mehr begleitet als ich sie. Ich glaube, sie hat mich so gesehen und angenommen wie ich war, mit all meinen Schwächen, gerade mit meiner Hilflosigkeit. Später haben mir mehrere Assistenten gesagt, dass ich mich in dieser Zeit enorm entwickelt habe. An meinem letzten Abend als Assistentin in Cuise saß ich lange weinend an Charlottes Bett. Irgendwann schob sie mich sanft weg, wie wenn sie sagen wollte: „Jetzt lass mich endlich in Ruhe schlafen! Wir werden uns noch oft genug sehen!“

Damit sollte sie vollkommen Recht haben. Inzwischen besuche ich die Arche in Cuise regelmäßig. Einerseits weil es schön ist, Charlotte und all die anderen wunderbaren Menschen wiederzusehen. Ein paar Assistent/-innen, die mit mir zusammen angefangen hatten, sind immer noch dort oder regelmäßig zu Besuch und die meisten „personnes“ wohnen auch noch dort. Gleichzeitig ist es spannend zu sehen, wie sich das Foyer und die gesamte Gemeinschaft verändert. Gerade in den Jahren „nach mir“ hat sich einiges getan. Dazu muss man wissen, dass Cuise eine der ältesten Arche-Gemeinschaften ist und direkt neben Trosly liegt. Das hat Vor- und Nachteile. Viele ehemalige Assistent/-innen, die inzwischen in Rente sind, wohnen in Cuise, unterstützen die Gemeinschaft und kennen die „personnes“ außerordentlich gut. Dadurch, dass es einige Arche-Gemeinschaften in nächster Nähe gibt, sind viele Kooperationen möglich. Man kennt sich, man besucht sich, man tauscht sich aus, man feiert gemeinsam. Aber die Nähe zu Trosly und der große Einfluss vieler Ehemaliger führen auch dazu, dass Cuise in manchen Punkten eher traditionell ist. WLAN gibt es erst seit wenigen Jahren und als Paar in einem gemeinsamen Zimmer zu schlafen war lange Zeit nicht erlaubt. Momentan scheint sich die Gemeinschaft jedoch stark weiterzuentwickeln. Ich bin schon sehr gespannt, wohin der Weg in Zukunft geht. Bei meinem letzten Besuch war die „communauté“ gerade im Prozess, eine neue Leitung zu suchen und es wurde viel über Erneuerung gesprochen.

 

Menschlichkeit zählt

Auch ich habe mich seit meiner Zeit in Cuise stark weiterentwickelt. Ich war danach tatsächlich in Lateinamerika, wo ich auch in einer Arche-Gemeinschaft in Honduras mitleben durfte. Dort habe ich mehr über die dortige Kultur gelernt als in all den vielen Hostels, in denen ich davor und danach war.

Heute studiere ich „Inklusive Pädagogik und Heilpädagogik“. Damit bin ich total glücklich, auch weil wir sehr viel über die Menschlichkeit sprechen, die in der Arche so wichtig ist. Nach dem Studium möchte ich wieder in einer Lebensgemeinschaft wie der Arche leben. Warum? Weil ich glaube, dass solche Gemeinschaften oft menschlicher sein können als Großeinrichtungen. Weil ich mir nicht mehr vorstellen kann, das Leben von Menschen zu gestalten, deren Alltag ich nicht teile. Und weil ich weiß, dass mir das Leben in Gemeinschaft enorm guttut, selbst wenn es nicht immer einfach ist. Doch an Schwierigkeiten kann man wachsen, wenn man sich von anderen Menschen getragen fühlt – egal ob diese Menschen irgendeine Behinderung diagnostiziert bekommen haben oder nicht.

 
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