Lebensgemeinschaften für Menschen
mit und ohne geistige Behinderungen

Arche-Typen: Veronika Burth war in der Arche Inverness in Schottland

Gelebter Glaube - ein Jahr, das bis heute nachwirkt

Veronika Burth berichtet von ihrer Zeit 1984/85 in der Arche im schottischen Inverness, bekannt als „Hauptstadt der Highlands“. Dort lernte sie – angesichts schwer verständlicher Dialekte – die Vorzüge der Zeichensprache zu schätzen, teilte sich ein Doppelzimmer und machte Erfahrungen darin, den eigenen Glauben zu leben, statt nur zu predigen.

An einem grauen Tag war ich mit Cathol und James zur Gartenarbeit eingeteilt. Da stützte sich Cathol auf seinen Rechen und schaute gemütlich in die Luft. Etwas erzürnt fragte ich ihn: „Cathol, why are you not working? What are you waiting for?“ Und seine klare Antwort: „I'm waiting – for better days!”

Mit Cathol, James und vielen anderen verbrachte ich nach meinem Abitur 1984 ein Jahr in der Arche Inverness und besuchte die Gemeinschaft dann noch bis 1989 regelmäßig in den Semesterferien. Das ist eine ganze Zeit her – aber das Jahr wirkt nach, bis heute.

Auch wenn es nicht immer leicht war, habe ich aus dem Arche-Jahr sehr viel für mein weiteres Leben mitgenommen, das mich begleitet und stärkt und für das ich sehr dankbar bin. Ich will das an ein paar ausgewählten Beispielen verdeutlichen – es würde Seiten füllen, wenn ich alles aufschriebe, und selbst dann würde garantiert noch etwas fehlen.

 

Intensivtraining in Sachen Selbstständigkeit

Als ich nach Schottland kam, war ich in vielerlei Hinsicht recht unselbständig. Ich hatte zum Beispiel noch nie allein Kleidung oder Schuhe gekauft oder allein gekocht (mal abgesehen von Kleinigkeiten). Und plötzlich sollte ich Kleidung und Schuhe für andere Leute kaufen gehen! Und für eine Menge Leute kochen – möglichst etwas Genießbares. Dazu mit Zutaten, die ich zum Teil gar nicht kannte. Als ich im Sommer 1985 die Arche wieder verließ, konnte ich nicht nur kochen und selbständig für mich und für andere einkaufen, sondern verstand auch das schottische Englisch bestens. Dabei hatte ich anfangs mit meinem doch eigentlich guten Schulenglisch einige Verständnisprobleme und scheiterte schon an einem Assistenten aus Glasgow (na ja, wer „Glaswegian“ kennt, kann das vielleicht nachvollziehen), der mir am ersten(!) Tag zu erklären versuchte, welche Gemüsesorten im Gemeinschaftsgarten „The Furrow“ angebaut wurden. Die „residents“, also Bewohner, die aus allen möglichen Gegenden Schottlands kamen und entsprechend unterschiedliche Dialekte mitbrachten, begannen irgendwann, mit mir zusätzlich per Zeichensprache zu kommunizieren. Machten sie prima – denn nach einem Jahr verstand ich jeden schottischen Akzent. Heute noch liebe ich schottisches Englisch – ebenso wie schottische Folk-Musik!

 

Beziehungserfahrungen mit besonderen Menschen

Wesentlich ist für mich aber das, was ich in puncto Beziehung und Freundschaft aus der Arche mitgenommen habe und was mich durch mein Leben seither begleitet. Da waren die nicht immer einfachen, aber immer bereichernden Beziehungen zu den Bewohnern, von denen man in der Arche nicht getrennt ist, sondern mit denen man das Leben wirklich teilt – beste Vorbereitung auf Familienleben mit eigenen Kindern! Einen Teil des Jahres habe ich sogar das Zimmer mit einer Bewohnerin geteilt. Damals hat mir das nichts ausgemacht, auch wenn die Auseinandersetzungen, die ich mit meiner Zimmergenossin hatte, zum Teil heftig waren. Nichtsdestotrotz haben sie uns sehr zusammengeschweißt. Ich möchte die schönen Zeiten mit ihr nicht missen! Zimmerteilen wird in europäischen Arche-Gemeinschaften aber mittlerweile vermutlich eher die Ausnahme sein.

Ian war sehr lange ausgesprochen unfreundlich zu mir und wenn ich mit ihm im Garten zusammenarbeiten musste, fragte er mich regelmäßig als erstes, wann ich wieder zurück nach Deutschland ginge. Sehr aufbauend. Womit ich nie gerechnet hätte, waren seine tiefen und sehr berührenden Abschiedsworte auf dem Weg im Minibus zum Flughafen, als ich am Ende des Jahres dann wirklich nach Deutschland abreiste.

Eine Bewohnerin pflegte sich allen, die kamen, an den Hals zu werfen und wollte von ihnen hören, dass sie einem die wichtigste Person sei. Höflich versicherten ihr die Neuankömmlinge dies und dann kam es immer wieder zu schlimmen Szenen, wenn sich herausstellte, dass eben nicht sie die erste und einzige im Leben der jeweiligen Person war. Ich war vorgewarnt, hielt sie also zu Beginn sehr auf Abstand und pflegte einen sehr ehrlichen Umgang mit ihr. Sie wurde mit meine beste „Freundin“ unter den Bewohnerinnen. Ich habe sehr viel durch die Beziehung zu ihr gelernt – auch und gerade was Ehrlichkeit in menschlichen Beziehungen angeht.

Im Laufe des Jahres musste ich aus Personalgründen das Haus wechseln. Das fiel mir sehr schwer. Im neuen Haus wurde ich von einer älteren Bewohnerin sehr ablehnend behandelt und sie sagte mir gleich am ersten Tag ins Gesicht, dass sie mich nicht möge und dass sie nicht wolle, dass ich hier wohne. Im Nachhinein denke ich, dass ihr die Umstellung genauso schwerfiel wie mir. Aber mit der Zeit kamen wir wirklich gut miteinander klar. Über mindestens 15 Jahre hinweg bekam ich jedes Weihnachten eine Karte von ihr.

Wie ich von der Homepage weiß, leben einige meiner damaligen Mitbewohner (wie Ian) inzwischen nicht mehr. In meinem Herzen haben sie aber unverwischbare Spuren hinterlassen.

 

„Mit jemandem sein“ statt „etwas für ihn tun“

Nach meinem Arche-Jahr absolvierte ich während meines Sozialarbeits-Studiums ein Praktikum in einer größeren deutschen Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Da erst merkte ich, was die Arche gegenüber anderen Einrichtungen ausmacht: ihre Wertschätzung von Menschen mit Behinderung, bei denen nicht in erster Linie ihre (intellektuellen und anderen) Defizite wahrgenommen, sondern ihre besondere Fähigkeiten wie Offenheit und Ehrlichkeit usw. geschätzt werden. Und das Prinzip, „mit jemandem zu sein“ statt „etwas für ihn zu tun“. Meine Diplomarbeit im Fach „Sozialarbeit“ habe ich folgerichtig zum Thema der Gegenseitigkeit in der Beziehung zwischen Sozialarbeiter/-in und Klient/-in geschrieben.  Denn in der Arche habe ich gelernt, mein Helfersyndrom abzulegen und stattdessen anzuerkennen, was der angeblich hilfsbedürftige Mensch mir zu geben hat.

In der Arche lebt man ja aber nicht nur mit Bewohnern, sondern auch mit Assistenten zusammen. Zu meiner Zeit waren das fast nur Schotten bzw. Engländer und Iren. Ich glaube, mittlerweile hat sich der Anteil aus anderen Herkunftsländern erhöht. Die Freundschaft zu vielen von ihnen wuchs nicht nur durch das gemeinsame Leben und die gemeinsame Arbeit, sondern auch durch gemeinsam verbrachte freie Tage und Wochenenden. Natürlich gibt es immer Leute, mit denen man sich weniger gut versteht. Auch mit ihnen muss man in der Arche zusammenwohnen. Aber welch tiefe Gespräche haben wir zuweilen geführt – und wie viel Quatsch haben wir zusammen gemacht! Mit drei schottischen Freunden von damals habe ich immer noch Kontakt.

Die Stärke der Arche – die Gemeinschaft – war für mich aber auch eine Crux: Ich habe gemerkt, dass ich unter Trennung und Abschied sehr leide. Der Abschied vom Leben in der Arche und von den Menschen, mit denen ich zusammengelebt habe – Bewohnern genauso wie Assistenten – empfand ich als ausgesprochen schmerzhaft. So hat mich die Arche und das Zusammenleben mit den Bewohnern auch sehr viel über mich selbst gelehrt: Erfreuliches und auch weniger bis überhaupt nicht Erfreuliches. Zeitweise fand ich die Konfrontation mit mir selbst sehr hart, auch wenn sie im Nachhinein fruchtbar gewesen sein mag.

 

Wo der Glaube gelebt wird

Das Arche-Jahr hat auch meine Beziehung zu Gott gefestigt. Vorher war ich eine religiös Suchende, abgeschreckt von den Bekehrungsversuchen einer guten Freundin aus evangelikalen Kreisen, nicht ganz sicher, ob ich mit dem Christentum etwas zu tun haben wollte. In der Arche wurde der katholische Glaube (die Assistenten waren überwiegend katholisch) auf eine sehr unaufdringliche und stille Art gelebt (statt nur gepredigt), die mich sehr viel mehr überzeugt hat als alle Worte. Ich glaube, so bewusst wie in der Arche war mir die Nähe und Gegenwart Gottes seither nie wieder – nicht einmal während meines Theologiestudiums.

Nicht zuletzt verdanke ich also der Arche auch meine Berufswahl: Nach einem Sozialarbeits- und Theologiestudium unterrichte ich nun das Fach „Katholische Religion“ am Gymnasium und meine Arche-Erfahrungen fließen in den Kontakt mit meinen Schülerinnen und Schülern explizit und implizit ein. 

Gelegentlich denke ich noch daran, was mein Hausleiter Chris nach einem Gemeinschaftsgebet, das ich geleitet hatte, zu mir gesagt hat: „Veronika, du hast wirklich eine Begabung zu predigen!“ In gewisser Weise folge ich dieser Berufung nun. . .

 
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